KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Freitag, 24. November 1944

Am Morgen verteilte jemand Muckefuck-Kaffee an die Männer im dicht besetzten Keller. Der Kapo gab jedem von uns beiden eine Scheibe trockenes Brot. Draußen war kein Artilleriefeuer mehr auf das Dorf. Gegen 10 Uhr brach der Kapo mit uns beiden Funkern auf. Westlich von uns, nach Hürtgen zu von den Höhen, sowie von drunten aus dem nahen Waldtal, war heftiger Gefechtslärm zu hören, Maschinenwaffen, einzelne Abschüsse, Granatwerfereinschläge, und von fern, wie Donner, das Grollen der Artillerie. Zu unserem Erstaunen führte der Kapo uns nicht nach Westen in Richtung des Gefechtslärms. Wortkarg, wie er war, sagte er nur: “Wir machen einen Umweg. Haltet Abstand beim Gehen und achtet auf mich!”

Er ging mit uns stur wieder ostwärts über die Äcker, wo wir gestern gekommen waren, blieb aber nördlich unserer Bunker. So erreichten wir den schmalen Fahr- und Wanderweg Bergstein - Obermaubach. Auf der Plateaukante folgten wir diesem Weg, bis er im Wald abwärts in das Rurtal führte. Dort befand sich eine Art Bastei, eine kleine Aussichtsplattform mit einer Bank und einem Tisch. Schräg unter uns durch die kahlen Baumkronen sah man tief unten am Fluß das unzerstörte Obermaubach. Der Kapo breitete die Karte auf dem Tisch aus und fuhr mit dem Zeigefinger darauf herum. “Wir müssen von hier schräg links vom Weg ab durch den Wald,” sagte er wortkarg.

Der Wanderweg hatte uns bisher ausgezeichnet Deckung feindwärts gegeben, weil auf der offenen Feldstrecke auf seiner Westseite eine Wallhecke ihn begrenzte - die wir als Sichtschutz und Granatschutz benutzt hatten.

Der Kapo machte ein nachdenkliches Gesicht, nickte mit dem Kopf und sagte “Hier.” Er hatte im Kopf einen Plan, wie unser Funktrupp ohne Gefechtsberührung zu den Infenterielinien gelangen könnte. Er nahm dabei einen riesigen Umwegbogen in Kauf, bloß um dem fortwährenden Sperrfeuer auf unsere Hauptverbindungswege zu entgehen. Er sollte mit uns Richtung Vossenack - Germeter laufen und schlug mit uns einen Bogen durch dichte Walddeckung bis kurz vor Kleinhau, das über 4 km nördlich von Vossenack lag. “Hier wird es gehen,” sagte er, das Gesicht auf der Karte, ohne sie uns zu zeigen. Er brach sich vor uns einen Weg durch Nadelwalddickicht. Beim Gehen schlug starkes Geäst gegen unsere Funktornister und Stahlhelme. Ich war guter Laune, denn dies war ein Unternehmen nach meinem Geschmack. Ich folgte dem Kapo ganz ruhig mit 5 m Abstand, wie befohlen. Gerhard ging hinter mir. Von Zeit zu Zeit blieben wir stehen, und der Kapo sah auf seinen Kompass.

Wir befanden uns in dem Forstgebiet zwischen Brandenberg, Kleinhau und Unter/Obermaubach (Es wurde damals von den Infanteristen “der Todeswald” genannt, was wir dort beim Durchschreiten noch nicht wussten, aber bald erleben sollten. Als ich 1985 dort wandern wollte, hatte man den Wald zuwachsen lassen ! Alles an Gerät und Toten, das noch darin sein mochte, ruhte in dichtem Urwald !). Wir folgten einer schmalen Schneise im Gebiet des 'Bovenberges”, Höhe 309,4. Immer wenn Geschützlärm zu hören war, blieb der Kapo stehen, hob für uns die Hand zum Halten und lauschte den Einschlägen. Wir bogen auf eine Querschneise nach Westen und kamen den Einschlägen immer näher. Noch immer war um uns schönes, intaktes Walddickicht. Bei unserem sehr langsamen Vorwärtstasten durch das Ungewisse war es inzwischen hoher Mittag geworden, der Himmel bedeckt, die Luft neblig feucht, zeitweise Nieselregen.

Bei schweigender Vorwärtsbewegung kamen wir den Artillerie-Einschlägen immer näher, und immer öfter blieb der Kapo stehen und lauschte. Dann tauchte vor uns die Kreuzung mit einer Hauptschneise auf, mit zerschossenen Baumkronen und gefallenem Geästdickicht. Jenseits im Wald erreichten wir eine kleine Lichtung, und dort bot sich uns ein schauerliches Bild. Auf engem Raum lagen beieinander drei tote Infanteristen, einer davon mit einem tragbaren Kaffeeholertank auf dem Rücken. Aber in der Mitte zwischen den Dreien lag ein kräftiger, baumlanger SS-Mann, im Waffen-SS-Rock, sein Gesicht noch frisch, aber schneeweiß: ein Granatsplitter hatte ihm säuberlich die Schädeldecke abrasiert, und seine Hirnmasse war aus dem Kopf herausgerutscht, lag auf der Erde. Die Schädeldecke, behaart, 3 Meter weiter.

In diesem Moment kam leichtes Fauchen, und wir warfen uns neben dieser Leiche flach auf den Boden. 8 Granat einschlage, Einzelfeuer. Zweige flogen uns um die Ohren. Der Kapo schrie: “Weg hier ! Zurück !”

Während Gerhard» und ich noch rätselten, wie der SS-Mann dorthin gekommen sein könnte - wo doch weit und breit keine SS eingesetzt war - hatte der Kapo als einziger erkannt, daß wir in eine Feuerfalle geraten waren. Kaum hatten wir den Wald jenseits der Lichtung wieder erreicht, ging die nächste Ladung von Granaten auf dieselbe Stelle, nieder. Wir aber hockten sicher in Waldfurchen 100 m davor. Der Kapo sah auf seine Uhr und zählte. Wieviele Minuten vergingen bis zur nächsten Einschlagsalve ? Die Abstände waren verdammt kurz. Der Ammi schoß Sperrfeuer auf diese Schneise. Kaum Zeit, mit schwerem Gerät dort bis in sicheren Abstand hinüberzulaufen. Wir warteten fast eine halbe Stunde. Wir zählten die jeweilige Dauer der Einschläge. Unmittelbar nach einer solchen Einschlagfolge rief der Kapo: “Los, jetzt rüber !” und rannte wieder zur Lichtung, vorbei an dem toten SS-Mann, und im Eiltempo jenseits in dichten Wald, wir hinterher. Wir hatten die Lichtung eben passiert und liefen noch - da kamen knapp hinter uns die nächsten Granateinschläge. Erst bei diesem Erlebnis begriff ich Artillerist, was “Fronteinsatz” ist.

Der Kapo studierte die Karte und den Kompaß. Links von uns schien der Wald aufzuhören. Wir gingen 50 m tief im Dickicht am Waldrand entlang, bis ein Waldpfad kam. Auf diesen Waldpfad bogen wir westwärts und sahen quer vor uns eine Straße. Der Kapo hielt an und machte ein zufriedenes Gesicht, sagte aber nichts. Schließlich sagte er: “Hier warten!” und ging langsam einige Meter vor.

Wir befanden uns an der Landesstraße 11 zwischen Brandenberg und Kleinhau. Wie wir später erfuhren, wurde sie “die Todesstraße” genannt. Der Kapo hockte 30 m vor uns und beobachtete die gegnerischen Abschüsse und Einschläge. Wir hatten die einzige Stelle erreicht, an der der dichte Forst von Ost nach West über die Straße hinüber reichte, etwa 1 km vor dem Straßenkreuz vor Kleinhau.“Genau hier wollte ich herauskommen,” sagte der Kapo zufrieden, “denn jetzt haben wir drüben auch Deckung. Aber seid vorsichtig: die ganze Straße ist feindeingesehen.” In diesem Moment landete ein Granatwerferüberfall vor uns auf der Straße. Das Herannahen der Dinger war kaum zu hören. Der Kapo sagte: “Noch etwas warten, und dann rüber in geschlossenem Sprung!”

Wieder Granateinschläge. Da sagte der Kapo: “Los ! Jetzt ! Schnell !” Mit meinem schweren Kasten auf dem Rücken humpelte ich der Straße zu. Als ich auf der Straße ankam, traute ich meinen Augen nicht. Mitten auf der Fahrbahn lagen fünf oder sechs tote Infanteristen, wie sie gefallen waren, teilweise übereinander. Ein grausiges Bild. Ich dachte bei mir: “Wenn du hier stirbst - oder auch nur verwundet wirst -kann dich kein Mensch bergen, und vielleicht erfährt nie einer, wer du warst !”

“Los doch, rüber ! ” schrie der Kapo mich an. Drüben war eine Waldecke. Schräg links vor mir, keine 4 km entfernt auf überragender Höhe, sah ich zum ersten Mal die Kirche von Vossenack. Ich wußte damals noch nicht, daß das Vossenack war. “Weiter rein in den Wald,” rief der Kapo,“dort drüben sitzt der Ammi !”, und er zeigte auf Vossenack.

Am Waldrand wären wir beinahe gestolpert: tief eingegraben bis über den Stahlhelm hockten dort Infanteristen in ihren Löchern, eine ganze Schar, feuerbereit - eine deutsche Granatwerferstellung. Mir begann jegliche Fantasie darüber zu vergehen, was ich auf dieser Exkursion wohl noch alles sehen und erleben würde; aber vor allem war ich mir nicht mehr sicher, ob ich diesen Weg je lebend wieder zurückkommen können würde.

Mühsam streiften wir hintereinander durch den weglosen, zerschossenen Wald. Etwa 20 Minuten lang folgten wir einer Erosionsfurche leicht bergab, kamen auf einen Lehmweg. Um uns hatte sich das Relief geändert; wir hatten die Brandenberger Hochfläche verlassen, und um uns ragten hohe Waldkanten über den Hängen auf. Der Kapo sagte unvermittelt: “Wir sind gleich da !” Dabei war er selbst zum ersten Mal hier und erst vor 3 Tagen aus Verden/Aller zu uns gekommen. Seine Art flößte Vertrauen ein. Er sprach einen gebildeten Brandenburger Dialekt.

Tatsächlich tauchte bald darauf rechts von uns an einem Steilhang ein schmuckes Haus auf, mitten in felsiger Wildnis. Von den Soldaten weit und breit wurde es “das Jagdhaus” genannt. Es liegt über dem Steinbachgrund, einen guten km südlich von Hürtgen und war bei unserer Ankunft noch unzerstört (Das Haus ist auch heute wieder da). In dem Jagdhaus, sagte der Kapo, sei der Regimentsgefechtsstand des Infanterieregiments 1055. Wir erklommen den Steilhang und betraten das Haus. Es war kurz vor 16 Uhr. Von Brandenberg bis hierher hatten wir, behindert durch Artillerieüberfälle und Umwege, sechs Stunden gebraucht ! Und ich fragte mich: Wie geht das, wenn alle Versorgung und aller Ersatz nach vorne auf 2 km Luftlinie durch Sperrfeuer so behindert wird, daß er sechs Stunden braucht ? “Wir bleiben heute nacht hier,” sagte der Kapo. “Erst morgen gehen wir nach vorn in Stellung.”

Ich atmete auf, aber war besorgt. “Um Himmels willen,” dachte ich, “du hast Befehl vom Leutnant, noch am selben Tage auf Empfang zu gehen und dich per Funk auf B-Stelle zu melden !” “Jetzt auf Empfang gehen ?” sagte der Kapo. “Kommt nicht in Frage ! Wir sind hier auf fremdem Gefechtsstand ! Wollen Sie das Haus in die Luft jagen lassen ?” Ich dachte: “Was werden die Funkkameraden im Bergstein-Bunker sagen, wenn ich nicht komme ? Verzweifelt werden sie mich die ganze Nacht über Funk rufen, und wenn ich je zurückkomme, werde ich strafversetzt !”

Im “Jagdhaus” war Kommen und Gehen. Das ganze Erdgeschoß war dicht besetzt mit Stäben, Fernsprechvermittlung, Funkstelle, Küche, Verbandsplatz. Eingesetzte Infanteristen mit Stahlhelm und Waffe verließen das Haus, um in der Dunkelheit nach Vorne zu gehen. Das Haus schien noch sicher vor Beschüß zu sein. Öfen brannten, Hauch stieg draußen aus dem Schornstein. Wir übernachteten auf dem Korridorfußboden im Erdgeschoß, nachdem jemand dürftige Verpflegung verteilt hatte. Und ich wunderte mich, was ich wohl noch alles erleben würde.



HORIZONTAL FLOURISH LINE

(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

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