KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Montag, 27. November 1944

Um Mitternacht wurden wir Verwundeten geweckt. Aufsteigen zum Abtransport zum Verbandsplatz nach hinten. Ein richtiges Pferdefuhrwerk war vorgefahren! Auf einem landwirtschaftlichen Kastenwagen sollten wir Platz nehmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das Gefährt auf der Straße Kleinhau - Brandenberg ungeschoren bleiben würde, aber man beruhigte: zur Zeit sei unterwegs alles ruhig !

Der Wagen polterte los. Neben mir lag ein Schwerverwundeter mit Bauchschuss. Er stöhnte bei jedem Schlagloch, durch das wir fuhren, und schrie laut: "Ich kann nicht mehr! Werft mich ab !"

Gerhard war auch wieder da. Er sagte, wir hätten Befehl, nicht mit zum Verbandsplatz zu fahren, der irgendwo bei Zerkall liegen sollte, sondern in Bergstein auszusteigen und uns auf unserer B-Stelle zu melden.

Schon auf dem Rückmarsch gestern abend hatte mein Oberschenkel zu schmerzen begonnen und war jetzt leicht geschwollen. Die Wunde brannte. So stieg ich an der Straßengabel von Bergstein, wo die Dorfstraße von der Chaussee abzweigt und sich damals ein runder, bebauter Platz befand, vom Fuhrwerk. Die Luft war klar, der Platz war durch Mondschein beleuchtet. Von ferne schimmerten düster die Höhen von Vossenack und Schmidt. Das Gespann fuhr weiter. Etwa eine Minute verging, da fegten mit schauerlichem Knall und Gepolter die ersten Granaten von drüben in unseren Dorfplatz, trafen die Häuser gegenüber. - Wieder dasselbe Phänomen: lediglich das Gespann war vorbeigerollt, niemand hatte gesprochen,niemand Licht gemacht. Trotzdem schoß sofort der Ammi, sofort mit aufgefasstem Ziel, nachts um halb zwei !

Ich beschloß, durch die Keller zu schauen nach Verpflegung. Es war aber nirgends welche da. Gerhard sagte, man käme zum B-Stellen-Bunker, wenn man die Dorfstraße entlang liefe. Ich sah rechts voraus den Burgberg und meinte, wir mußten uns weiter rechts halten. So ging Gerhard durch die Dorfstraße, ich aber rechts davon über die Äcker, parallel zu ihm hinter den Häusern, in Rufweite.

Als ich 200 m gegangen war, schoß der Ammi Salvenfeuer hinter mir her, dicht aufeinander, Ladung für Ladung. Es hörte nicht wieder auf, und die Einschläge kamen immer näher auf mich zu. Ich begann, voller Angst vorwärts zu laufen. Keine Rettung. Plötzlich lag die nächste Salve direkt auf mir im Acker. Ich warf mich in die Furche. Eine Granate krepierte" unmittelbar neben mir, Feuerschein und viel "Sand in meinem Gesicht. Aber der meiste Sand flog fontänenartig vorwärts. Ich war benommen, hatte Todesangst, fühlte mich aber unverletzt. Mit meiner rechten Hand tastete ich rechts von mir den Boden ab und fand, was ich vermutet hatte: direkt neben mir befand sich die typische Bodenschramme des Granateinschlags! Ich sprang auf und schrie laut nach Gerhard. Er rief zurück: "Komm hierher auf die Straße!" Der Feuerüberfall hatte in diesem Moment aufgehört, und Gerhard führte mich sicher zum B-Bunker Ich konnte mich überhaupt nicht beruhigen: Dort schwer verwundet liegen geblieben zu sein, hätte mir noch gefehlt gehabt, so kurz vor der sicheren Rettung aus dem Hürtgenwald. Und nochmals in mir die Frage: wieso schoß der Ammi, der mich unmöglich hätte sehen können, nicht auf die DorfStraße, sondern eine Feuerwalze hinter mir her über die Äcker ?

Leutnant Knutzen, unser Nachrichtenoffizier, empfing uns freudig im Bunker. Alle Kameraden dort starrten uns an wie überlebende Helden eines Infernos. Ich wurde neu verbunden und bekam ein Feldbett. Es war ein Uhr nachts. Ich schlief fest bis zum Mittag, 13 Uhr.

Ich bekam warmes Essen und mußte erzählen. Ein junger Sani untersuchte meine Wunde und ging fort. Nach 5 Minuten kam er wieder und sagte: Du mußt hier leider weg. Deine Wunde ist infiziert ! Wir bringen dich zum Truppenverbandsplatz bei unserem Troß in Nideggen!"

Am Spätnachmittag kam ein Kamerad auf pferdbespanntem Infanteriekarren voller Essenkanister. Er nahm mich mit: den direkten Steilhang hinunter nach Zerkall, von dort die Straße gen Nideggen. Kaum hatten wir Zerkall verlassen und befanden uns auf der Straße am Fluß neben der Bahnlinie, kam die nächste Überraschung vom Ammi hinter den Bergen: eins, zwei, drei, vier Einschläge neben uns in die Straßenböschung. Das Pferd brach beim ersten Einschlag in wilden Galopp, Erdbrocken flogen uns um die Ohren. Wieder in mir die Frage: wie konnte der Ammi uns hier unten sehen ? Er lag weit drüben in Vossenack und Hürtgen! Steile Berge waren dazwischen. Aber er schoß immer wieder gezielt direkt auf den Mann !

Es war dunkel, als wir droben in der befestigten Bergstadt Nideggen ankamen. Unser Spieß, Zahlmeister, Arzt befanden sich in einem hohen Gebäude rechts bald hinter dem Stadttor, wenn man von Zerkall kam, vor dem Haus ein enger Vorgarten mit einer Steintreppe. (Ich habe später dieses Haus in Nideggen nie wieder gefunden).

Bei dem Arzt waren zwei etwa 45-jährige einheimische Frauen, die als Krankenschwestern fungierten. Sie zogen mich sofort nackt aus und steckten mich in eine Badewanne. Sie sagten, einen so verdreckten Soldaten hätten sie noch nie gesehen. Ich hatte mich schon 14 Tage nicht mehr waschen können und trug an mir den klebrigen Schlamm der HKL im Bosselbachtal.

Ich wurde üppig verbunden, verpflegt und in ein hohes Zimmer im 2. Stockwerk gebracht. Dort wurde ich in ein sauberes Federbett gelegt und mit den Worten verabschiedet: "Dies ist,nun Ihr Zimmer! Erholen Sie sich, schlafen Sie sich aus. Wir sehen morgen früh wieder nach Ihnen!"

Ich schlief, besser als zu Hause.

Dienstag, 28. November 1944

Am folgenden Tag wurde ich im Bett gelassen und gut versorgt in "meinem Zimmer". Der Arzt ließ mich ohne Bescheid. In der darauffolgenden Nacht wurde plötzlich Nideggen mit Artillerie beschossen. Ganz in der Nähe unseres hohen, massiven Altbaues gab es polternde Einschläge. Die Scheiben klirrten. Am Morgen kam der Spieß und sagte: "Hier in der Stadt wird es langsam ungemütlich. Wir müssen Sie aus dem 2.Stockwerk herausnehmen. Wir legen Sie in einen Kellerraum."

Mittwoch, 29. November 1944

Mittags kam der Arzt und sagte: "Heute Abend geht ein LKW zum Hauptverbandsplatz nach Froitzheim. Ihre Wunde ist infiziert. Ich schicke Sie mit!"

Die Fahrt, motorisiert, war ungewohnt kurz. Der HVP befand sich an dem Straßenkreuz Ortsausgang Froitzheim in einer Arbeitsdienstbaracke. Großer Betrieb. Für Leichtverwundete stundenlanges Warten. Am späten Abend Untersuchung: "Ihre Wunde ist infiziert. Sie fahren noch heute abend mit LKW zum Verwundeten-Sammelplatz Euskirchen und werden dort in einen Lazarettzug verladen!" Gegen Morgen saß ich mit Leichtverwundeten in einem mit Kotkreuz gekennzeichneten Personenzugwagen, der sofort abfuhr.

Donnerstag, 30. November 1944

Am Vormittag lief der Lazarettzug in Bonn ein und hielt auf dem damals winzigen "Hauptbahnhof".

Wer gehen konnte, verließ den Zug kurz, um sich die Beine zu vertreten. Am Lattenzaun zur Straße stand eine Menschenmenge und starrte uns an, Bonner Einwohner. Ich ging dorthin, und ein älterer Herr fragte mich: "Wie sieht's aus, vorne???"

Meine ehrliche Antwort: "Noch wird gehalten; aber wie lange noch, kann ich nicht sagen!"

Und ich dachte an das stille Heldentum der jungen Kameraden dort oben im Wald, im Nichts.



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(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

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