KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Sonntag, 26. November 1944

Eng aneinander gekauert, schliefen wir schlecht und recht durch die kalte Nacht, dicht über uns die Laub-Zeltbahn-Knüppel-Abdeckung als Dach. In der Nacht blieb der Gegner ruhig. Als wir im Morgen vor unser Loch traten, lag Schneegries auf dem Waldboden, unser Atem dampfte und wir waren kräftig durchgefroren. Der Obergefreite vom Nachbarloch hatte zwei Astgabeln auf den Waldboden gesteckt, an einer Querstange sein Kochgeschirr aufgehängt, ein rauchloses Feuer darunter entzündet und versuchte, unbekümmert, “Kaffee” zu kochen. Wir alle bekamen davon einen Becher voll. Die heiße Flüssigkeit wärmte entscheidend. Man war seit Jahren auf Härte und Entbehrung trainiert und fühlte sich wieder wohl.

Der Kapo erlaubte uns, unsere Eisernen Rationen anzubrechen.

Der Kapo flitzte feindwärts durch das Waldgelände, Meldertasche um, Kompass, Karte, Melde-block und Beistift in der Hand, und maß und zählte und rechnete und zeichnete. Als er wiederkam, hatte er eine genaue Geländeskizze angefertigt, im Maßstab, mit ungefährer Eintragung der vordersten Posten. Vor unserem Loch stehend, rechnete er das Ganze um in eine genaue Entfernungsangabe zu den Feuerstellungen userer Geschütze drunten bei Obermaubach im Rurtal. Dies alles münzte er in eine übliche artilleristische Feuermeldung für unsere Geschützbatterien. Sie bestanden aus Leichten Feldhaubitzen 10,5 cm, genannt LFH 18. Der Kapo gab mir die Feuermeldung und sagte: "Geben Sie das jetzt durch !" Ich sagte die Meldung durch zur B-Stelle in Bergstein, erhielt Bestätigung "Alles richtig, Schluß, Kommen !" (a-r-s-k).

Der Kapo ging bei der Infanterie herum und sagte: "In Deckung gehen ! Wir schießen jetzt!" Dann begaben auch wir Drei uns in unser Erdloch. 15 Minuten geschah gar nichts. Dann hörten wir von weit hinten Abschüsse und gleichzeitig das leise Fauchen unserer 10,5-Granaten. Es klang jedes Mal, als wenn ein Rohrstock durch die Luft geschlagen wurde und dauerte auch nicht bei weitem so lang wie in Kriegsfilmen. Als die Geschosse so blitzschnell heranrauschten, direkt auf uns zu, erfuhren wir den Schrecken unseres Lebens. Die Einschläge lagen genau in unserer eigenen Infanteriestellung und krepierten zwischen unseren Löchern. Erst eine Salve, dann noch eine Salve - von beiden Batterien. Die Infanteristen neben uns waren noch am "Kaffeekochen" gewesen und jetzt in Deckung gegangen. Eine Granate krepierte vor ihrer Kochstelle und schleuderte Stöcker und Kochgeschirr in hohem Bogen durch die Gegend. Der Kapo schrie mich an: "Geben Sie durch: Feuer einstellen ! Sofort einstellen !"

Noch ehe ich Verbindung hatte, rauschte die nächste Doppelsalve heran. Ich hatte das Funk-tornistergerät mit der hohen Stabantenne vor den Eingang zu unserem Erdbunker gestellt und lag quer im Eingang, Ich duckte mich ganz flach und sah zwei Meter vor mir den Feuerschein der krepierenden Granate. Das Funkgerät blieb unbeschädigt, doch ich erhielt einen kräftigen Schlag gegen meinen Oberschenkel, der seitwärts am Beinansatz etwas über die Deckung geragt hatte. Es fühlte sich an, als habe mich ein Pferd getreten. Ich schrie ins Mikrofon: "Feuer sofort einstellen 1 Feuer einstellen!" Sofort Bestätigung vom anderen Ende: "Feuer einstellen. Kommen!" Und nach einer Weile: "Erbitten Meldung über Trefferlage!" Der Kapo sagte zu mir: "Geben Sie durch: Feuer 100 m vorverlegen !" Ich gab durch. Ich bekam zur Antwort von der B-Stelle: "Tanne, bitte neue Feuermeldung !".

Der Kapo sagte: "Die sind verrückt. Die brauchen keine neue Meldung. Die sollen bloß das Feuer vorverlegen, selbe Einstellung, 100 m vor, geben Sie durch, schnell !"
Ich gab durch,bekam bestätigt: "Richtig. 100 m vorverlegen."

Wach nur drei Minuten rauschte die nächste Salve heran, schlug vor uns bergauf in den Wald. "Bravo, sehr gut !" sagte der Kapo, "haargenau auf den Amerikanern im Ziel! Gott sei Dank!" Es kamen noch zwei oder drei Salven. Dann war offenbar die rationierte Munition erschöpft. Für den liest des Tages blieb es ruhig! Erst jetzt kam ich dazu, mir mein offenbar getroffenes Bein anzusehen. In meinem Waffenrock war mitten in der Seitentasche ein 1 cm langes, enges Loch. In der Tasche hatte ich ein Büchlein stecken gehabt: es hatte ein - gleiches Loch, eng und säuberlich, wie mit Scherenspitze durchbohrt. Unterwäsche ebenso. Und in der Haut des Oberschenkels war eine 2 cm lange Schramme, die nicht blutete, aber durch die Haut in das Fleisch reichte. Ich hatte kaum Schmerzen. Ich hielt das für einen bloßen Streifschuss, meldete beim Kapo "Leicht verwundet, aber ich kann weitermachen." Der Nachmittag verging, der Himmel dicht ver -hangen, schon gegen halb vier wurde es dunkel. Kurz vorher ging der Kapo mit uns hinüber zum Bunker des Kompaniegefechtsstandes zum Verpflegungsempfang und zum Verbindungsgespräch mit dem Kompanieführer.

Als wir eintraten, stießen wir auf stumme, betretene und besorgt dreinschauende Gesichter. Auf unsere Frage: "wo ist denn der Leutnant ?" kam nur leise die Antwort: "Tot. Er liegt da vorne.", und mit der Hand weit feindwärts in den Bergwald weisend, wie zur Erläuterung: "Auf Spähtrupp. Heute nachmittag." Ich fühlte mich nervlich restlos vernichtet. Der Kapo fragte mich: "Was ist aus Ihrer Verwundung geworden?" Obwohl ich jetzt vom Gehen einen brennenden Schmerz hatte, sagte ich: "Nur eine Schramme. Ein Streifschuss." Der Stabsfeldwebel sagte: "Laß mal sehen I" Ich schob die Kleidung zur Seite. Er schaute und sagte: "Sind Sie verrückt ? Seit wieviele Stunden laufen Sie damit rum? Sie gehen sofort zurück zum Jagdhaus und lassen sich eine Tetanusspritze geben! Haben Sie noch nie von Wundstarrkrampf gehört?" - Ich hatte nicht. Der Kapo fügte hinzu: "Machen Sie Meldung über Ihre Verwundung bei unserer B-Stelle in Bergstein! Sagen Sie, daß Sie zurückgehen, und fordern Sie einen neuen Funker an. Morgen früh machen wir wieder Schießen. Dann muß er hier sein.

Ich gab die Meldung durch und erhielt zur Antwort Bestätigung und die Meldung, daß ein neuer Funktrupp sofort losgeschickt werde. Der Kapo sagte zu Gerhard, meinem Funkkameraden: "Dann gehen Sie als Begleiter jetzt mit zurück!

Versuchen Sie, den neuen Funktrupp beim Regimentsgefechtsstand im Jagdhaus zu treffen und erklären Sie ihm den Weg hierher." Ich dachte bei mir: Totensonntag ! Ist heute ! Und für dich ist der Funkbetrieb hier schon aus ! Und jetzt zurück, wieder durch die Sperrfeuerwälder, und im Dunkeln! Das wird noch ein richtiger Totensonntag, der größte Totensonntag deines Lebens, und vielleicht der letzte!

Im herbstlichen Abenddunkel gelangten wir ohne Zwischenfalle das Bosselbachtal hinab zum Regimentsgefechtsstand im Jagdhaus südlich Hürtgen. Wieder waren wir mutterseelenallein in dem ganzen Tal, links und rechts von uns steil aufsteigend die düsteren Waldhänge. Links oben war oft die Kante der Hochfläche Germeter-Hürtgen zu sehen. Ich schaute viel dorthin in der Annahme, der Gegner läge dort oben und würde uns sehen. Es zeigte sich aber niemand. Der Hang bei der 10. Kompanie vor Vossenack schien die einzige Stelle zu sein, wo der Amerikaner ins Bosselbachtal eingebrochen war. Was ich nicht wußte: genau an diesem Sonntag tobte 2 km links vor uns das letzte Gefecht um das Dorf Hürtgen. Es hatte alle Kräfte an sich gezogen und ließ uns dort unten in Frieden zurückgehen.

Am Regimentsgefechtsstand angekommen, erlebten wir die nächste Bescherung: ein Jabo hatte am Vormittag bombardiert, und das ganze Jagdhaus war ein Trümmerhaufen! Nur die Kellerräume waren noch bewohnbar.

Ich meldete mich in dem dort befindlichen Verbandsraum und bekam von einem älteren Stabsarzt eine Tetanusspritze so wuchtig im Stehen in den Hintern gejagt, daß ich, erschöpft von Mangel an Schlaf und Verpflegung wie ich war, sofort in Ohnmacht fiel. "He," rüttelte mich der Arzt, "können Sie keine Spritze mehr vertragen? Hier, trinken Sie diesen Kognak!" Er reichte mir einen echten. Müdigkeit befiel mich. "Und nun gehen Sie ans Ende des Korridors,, dort liegen die anderen Verwundeten. Heute nacht kommt ein Wagen und fährt Sie nach hinten!"

Der Kellerraum für die Verwundeten war schmal aber lang und mit Strohschüttung ausgelegt. Dort lagen in zwei Reihen etwa 15 meist jugendliche Infanteristen mit leichten bis schweren Verwundungen aller Art. Die Schwerverwundeten lagen stumm oder schlafend. Die Leichtverwundeten, meist mit Armdurchschüssen und ähnlichem, unterhielten sich gelöst und angeregt über soeben in der Front Erlebtes. Plötzlich und unvermittelt fing ein 19-jähriger an zu singen. Sofort sangen alle inbrünstig mit: ganz langsam, feierlich und mehrstimmig erklang: "Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen, ein Pferdchen für mein Paradies! Mamatschi, Trauerpferdchen mag ich nicht !"

Die Gesichter waren ernst. Ich war gerade eingetreten. Sie sangen es wie einen Choral. So wie man im Friedericus-Film gesungen hatte: "Nun danket alle Gott !" Genau so sangen sie "Mamatschi", diesen läppischen Schlager aus dem 4. Kriegsjahr, von dem kein Mensch wußte, was der verrückte Text bedeuten sollte. Kanonier Obermayer hatte es in Verden immer wie ein Konzertsänger auf der Stallgasse gesungen, beim Pferde putzen: "Mamatschi!" Und Wachtmeister Springer auf dem Kasernenhof, wenn wir Rekruten angetreten waren und er guter Laune war,hatte immer gesagt: "Obermayer ! Vortreten ! Singen Sie Mamatschi!"

Warum sangen die Verwundeten am 26.November 1944, einen Kilometer hinter Hürtgen, wie. einen Choral aus voller Brust "Mamatschi"? Wahrscheinlich kannten sie keinen Dankes-choral. Vielleicht fühlten sie, daß die sanfte Melodie sie erleichterte. Auf jeden Fall wollten sie sich beweisen, daß sie nach den Tagen des Grauens im tiefen Wald nicht tot, sondern noch am Leben waren. "Mamatschi, Trauerpferdchen mag ich nicht !" Viele Schlager von einst sind heute wieder auf dem Plattenmarkt. Aber "Mamatschi" habe ich nie wieder gehört. Im Hürtgenwald im Verwundetenraum war's das letzte Mal. Gestärkt vom Gesang wurden die Grenadiere gesprächig: "Wo bist du verwundet worden? Und du?"

Und es kamen die unerhörtesten Geschichten aus den Mündern dieser jungen Kämpfer, selbst Erlebtes oder vorn in der HKL Gehörtes. Man erfuhr, daß der Wald vor Hürtgen so unwegsam und unheimlich war, daß sich immer wieder Soldaten verliefen und umherirrten, auch Amerikaner. Man erfuhr, daß der Ammi auf den Nachschubwegen nach vorn durch das Walddickicht Leuchtbänder gelegt hatte, damit die Fußkolonnen den Weg nach vorn fanden. Und mitunter habe sich einer unserer Stoßtrupps am Leuchtband auf die Lauer gelegt zum Überfall auf die Amerikaner, die Kisten mit Versorgung geschleppt hätten. Dort habe man Verpflegung für eine ganze deutsche Kompanie erbeuten können. Und was war in den Kisten? Schokolade ! Nur Schokolade ! Sogenannte K-Rationen. In Wachspappe verpackt.

Schon jahrelang hatte es damals in Deutschland schon keine Schokolade mehr gegeben, nicht einmal zu Weihnachten. Leutnant Knutzen hatte mir vor acht Tagen eine Viertelscheibe Schokokola zugeteilt ! .

Ein junger Grenadier erzählte: er sei mit einem Kameraden im tiefen Wald unterwegs gewesen und habe seinen Gefechtsstand gesucht. Sie seien bei Mondschein an eine Lichtung geraten, da seien von der gegenüberliegenden Seite zwei Mann auf sie zugekommen: Amerikaner! Ein Ammi habe sofort gerufen: "Nickt scheeßen!" Er habe ein Päckchen Zigaretten gezückt und sie darin zugreifen lassen. Schwerer Tabak. Die Vier hätten friedlich zusammengestanden, mitten im einsamen, dunklen Hürtgenwald, die Waffe über die Schulter abwärts hängend, vier Menschen in zwei feindlichen Uniformen, und, ihre Zigaretten zusammen aufgeraucht, wortlos, erstaunt, tief atmend einander anschauend. Der Ammi mit den Zigaretten habe ihnen stumm die Hand zum Abschied gereicht, habe sich mit seinem Kameraden umgedreht, habe noch einmal gewinkt und sei dann im Dickicht verschwunden ...



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(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

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