KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Dienstag, 21. November 1944

Da es am folgenden Tag immernoch ruhig war und dazu trockenes Wetter, begab ich mich auf einen weiteren Ausflug, aber diesmal in das Hinterland des Bunkers. Direkt hinter dem Bunker-Ausgang fällt das Gelände nicht sofort steil ab in das Kalltal, sondern es stand dort damals dichter Hochwald, der auf einen steilwandigen Bergsporn mit Strauchgelände führte. Dort legte ich mich in die Herbstsonne. Es war wärmer als im Bunker. Neben und vor mir fiel das Gelände steil ab ins Tal, und drüben, wie zum Greifen nahe, lag, in seiner Burgbefestigung, die Stadt Nideggen. Für mich war das ein märchenhafter Blick, denn als Norddeutscher hatte ich noch nie eine befestigte alte Bergstadt gesehen. Nideggen war an jenem 21. November noch intakt, und von drunten im Tal grüßte neben der Bahnlinie die Straße, die zum Stadttor hinaufführte. Als ich gerade wieder aufgestanden war, fauchte es auf einmal leise über mir. Das Fauchen kam blitzartig direkt auf mich zu. Bevor ich mich hinwerfen konnte, sah ich in der Bergwand dort gegenüber unterhalb von Nideggen das Aufblitzen von vier Einschlägen ! Die Granaten mußten nur Zentimeter über meinem Kopf über meinen Bergsporn geflogen sein, dann über das ganze Tal bis zur Felswand drüben vor Nideggen ! Ich hatte das tödliche Fauchen so dicht an meinen Ohren gehört wie noch nie, fast glaubte ich, den Luftzug verspürt zu haben. Verunsichert zog ich mich in meinen Bunker zurück. Bis heute quält mich die Frage: War ich in Feindeinsicht geraten oder nur Zeuge eines neuen Zufalls ? Zwischen mir und der HKL (Hauptkampflinie) lag der Burgberg von Bergstein ! Um ein Haar * wären die Granaten nicht über meinen Bergsporn geflogen, sondern darauf detoniert. Wenig später sollte ich erleben, daß erneut in das Kalltal vor Nideggen auf einzelne Männer mit Artillerie geschossen wurde, offenbar gezielt. Unvorstellbar, von wo erkannt. Die ganze Gegend war gedeckt durch den Hinterhang von Bergstein!

Mittwoch, 22. November 1944

Von diesem 22. November an änderte sich in Bergstein alles. Schon gleich nach dem Frühstück gab es Granat-Einschläge in den Bergkuppenwald vor meinem Bunker. Ich hatte erwägt, noch einmal vorn zu dem Forsthaus zu schleichen und mir aus dessen Kellervorräten etwas zu essen zu holen. Aber aus der Traum von meiner Burgberg-Romantik; die amerikanische Artillerie schoß sich auf unser weit sichtbares Höhengelände ein. Zwischen 10. und 11 Uhr vormittags kamen die Einschläge näher an meinen Bunker. Ich befand mich darin und las ein Buch. Plötzlich gab es einen schrecklichen Bums mit einer Luftdruckwelle. Der Bunker schien zu schaukeln, und da ich Erfahrung im Verschüttetwerden hatte aus der Normandie, lag ich angsterfüllt auf dem Betonfußboden und horchte. Der Luftdruck hatte meine vier Hindenburgkerzen ausgeblasen, und um mich her war es nun stockdunkel. Ich tastete mich zum Bunkereingang und sah vorsichtig hinaus; nichts war verändert. Jedoch war meine Wurfantenne vom Geäst über dem Bunker heruntergeschleudert worden und lag vor dem Bunkereingang auf der Erde. Offenbar war das Bunkerdach getroffen worden, hatte aber gehalten. Immerhin war das Betondach ja auch leicht mit Erde und Vegetation abgedeckt gewesen. Ich verstand etwas von 10,5-Einschlägen, und ich schätzte: dieser Einschlag kam mindestens von einer 15cm-Granate.

HOWITZER 155mm
155mm Haubitze

Bald nach dem Einschlag war wieder Totenstille um den Bunker. Daher kletterte ich seitlich daran hoch, um zu forschen, ob es Schaden gegeben hatte. Was ich fand, war nur folgendes: Oben auf dem Bunkerdach, in Höhe des Eingangs, war die Grasnarbe und Erdbedeckung ringsum weggefegt. Und in der Betondecke befand sich ein flacher, länglicher Trichter von etwa 60 cm Durchmesser und etwa 30 cm Tiefe. Das Bunkerdach hatte tatsächlich einen Volltreffer bekommen ! Trotzdem hatte die Statik des Bunkers keinen Schaden genommen.

(Als ich 1955 zum ersten Male wieder Bergstein besuchte, stand mein Bunker 371 noch immer unversehrt im Walddickicht am Hinterhang des Burgberges. Wir kletterten hinauf - und sahen, unverändert, die tiefe Betonscharte des Volltreffers vom 22.November 1944! Seltsamerweise war sie noch immer nicht überwachsen. Hielt giftige Chemie die Vegetation von dem Einschlagskrater fort?)

Als ich an jenem 22.11.44 mittags zum Essenholen in den B-Stellen-Bunker kam, wurde ich empfangen mit der Nachricht: “Spielar ist weg.” Auf meine Nachfrage erfuhr ich: “Vermißt”. Armer Kamerad Spielar ! Doch wenn er Glück gehabt hatte, war er jetzt in amerikanischer Gefangenschaft. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Seit diesem Moment kam ich mir an der Eifel-front elendiglich allein vor.

Auf dem Rückweg vom benachbarten B-Stellen-Bunker zu meinem Bunker 371 bergauf durch den Hochwald mußte ich mich mitsamt meinem gefüllten Kochgeschirr blitzschnell in eine Laubmulde werfen: Feuerüberfall direkt auf meinen Pfad. Artilleriegranaten zerfetzten zum ersten Male die Baumkronen vor meinem Bunkereingang. Äste und Zweige fielen mir auf den Kopf. Und ich dachte bei mir: jetzt gehen die gefährlichen Baumkrepierer wieder los!



HORIZONTAL FLOURISH LINE

(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

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