KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Sonnabend, 25. November 1944

Vom Jagdhaus am Waldhang südlich Hürtgen brach der Kapo mit uns beiden Funkern auf nach Hellwerden.

Auf lehmigem, zerfurchtem Fahrweg ging es in der Waldeinsamkeit bergab durch Schonungen in ein Bachtal. Dieses enge V-Tal mit oft steilen Hangen kommt von Hürtgen und läuft nach Südosten dem Tal der Kall zu. In seinem oberen Abschnitt, wo wir hinabstiegen, heißt es Steinbachtal. Wir hatten den Bachgrund noch nicht erreicht und befanden uns am Hang zwischen Fichtenschonungen, als wir unvermittelt Artilleriefeuer bekamen. Wir waren erst 150 m vom Jagdhaus gegangen. Wir warfen uns seitwärts ins Gebüsch. 8 Granaten in zwei Salven krepierten direkt zwischen uns. Aber wir wurden nicht getroffen. Ein Geschoß explodierte nicht und kam drei meter neben mir auf dem Weg zu liegen, gab ein seltsames Blasgeräusch von sich und sandte dichten Qualm aus einer Blechröhre. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und setzte instinktiv meine Gasmaske auf. Aber der Kapo stand auf und sagte: “Komm. Das ist nur eine Signalgranate. Der Rauch soll dem Gegner kennzeichnen, ob die Treffer im Ziel liegen !”

In Keine marschierten wir auf schlammigem Pfad etwa eine Stunde lang das Tal abwärts, sahen unterwegs weder Freund noch Feind. Wir waren absolut allein im tiefen Wald, nur der Bach plätscherte in der Wiesenaue. Unterwegs kamen wir zwischen steilen Waldhängen an eine Seitentalmündung. Der Kapo hielt an, studierte die Karte. Ich war weitergegangen, aber er holte mich zurück, zeigte nach rechts ins Seitental und sagte: “Hier geht's längs!” (Wie ich später erfuhr, war diese Zusammenfluß-stelle ein gefährlicher Ort, an dem sich nachts schon mancher Spähtrupp verlaufen hatte, Deutsche wie Amerikaner, und beim Gegner gelandet waren).

Die steile Waldecke vor uns, welche die beiden zusammenfließenden Bäche voneinander trennt, heißt das Kreuzheck, und das Nebental, in welchem wir jetzt hochmarschierten, heißt das Bosselbachtal und führt, sich abflachend, nach 2 km hinauf nach Vossenack. Das alles wußte ich damals nicht. Ich war nur davon beeindruckt, daß dieses wilde Gelände, dessen Unheimlichkeit mir einen Schauder einjagte, offenbar völlig entblößt von Truppen war und ich immernoch nicht wußte, wo der Gegner lag. Der Kapo hatte uns zu ruhigem, geräuschlosem Gehen und zu Obacht ermahnt. Kein Gerät durfte beim Gehen klappern. Rechts von uns war ein steiler Hang mit einer scharfen Kante, auf der sich nichts bewegte. Links von uns war nasse Wiesenaue (heute ist sie zugewachsen). Darüber stand jenseits düster der Kreuzheck-Wald. Plötzlich fauchte es vernehmlich von rechts oben, doch wir warfen uns nicht einmal hin, spürten wir doch am Geräusch, daß die Salve zu hoch lag. Sie krachte jenseits vom Bach in den Kreuzneck-Wald und rasierte mehrere Bäume ab (Als ich 1955 wieder dorthin kam, stand der gesamte Bergwald von Granaten zersplittert abgeholzt da).

Wir marschierten nun unbehelligt und in scheinbar tiefstem Frieden weiter, so leise wir konnten Dann ging rechts ein Fahrweg hoch, und gleich links vom Weg, an steilem Hang in tiefem Laubwald, erkannten wir deutsche Infanteristen, die sich in Erdlöchern und Holzhütten befanden, eine ganze Kompaniestellung. Wir gingen hinauf und waren am Ziel. Hier sollten wir unsere vorgeschobene Beobachterstellung beziehen (VB). Man führte uns zum Kompaniegefechtsstand. Er bestand aus einer 1,80 m tiefen Lehmkuhle mit einem kurzen Stollen in den Hang hinein, darüber gelegt Baumstämme und Erde. Ringsum ähnlich gebaute Unterkünfte, jeweils von 2 bis 3 Mann belegt.

In der Mitte des Gefechtsstand-Stollens stand ein tischähnliches Gebilde, darauf lag ein Meßtisch-blatt. Davor stand der Kompanieführer, ein Leutnant, etwa Mitte 30, bei ihm, untersetzt, ein noch älterer Stabsfeldwebel, sowie zwei Grenadiere und ein junger Sanitäter. Unser Kapo meldete uns Drei dem Leutnant.

Der Leutnant sagte: “Sie sollen hier VB der Artillerie sein? Sie haben uns gerade noch gefehlt ! Sie bekommen von mir absolutes Funkverbot! Wenn Sie funken und wir werden angepeilt, ist unsere ganze Kompanie verloren! Der Amerikaner schießt uns mit seiner Artillerie in Grund und Boden. Auf jeden Fall graben Sie sich erst einmal sofort einen Bunker. Sie können sich dort drüben niederlassen!”, und er zeigte schräg hangabwärts an das seitliche Ende der Kompaniestellung. “Und möglichst weit weg von uns!”, fügte er hinzu.

Während er endete, ertönte über uns im steilen Wald Maschinengewehrfeuer, ziemlich in der Nähe. “Das muß unser Spähtrupp sein,“ sagte der Leutnant knapp.

Wir erfuhren, daß wir hier bei der 10. Kompanie seien. Die Soldaten lägen vor uns in Schützenlöchern im tiefen Wald hangaufwärts. Fünfzig Meter vor uns seien die Amerikaner. Lautes Sprechen sei daher zu vermeiden. Während wir dies erfuhren, ertönte über uns im Wald lautes Schreien in tiefer Verzweiflung: “Hilfe !”. Der Leutnant sagte unbewegt: “Da ruft jemand um Hilfe,” und, zu dem Sanitäter gewandt: “Gehen Sie nachsehen. Lassen Sie Ihre Pistole hier. Wenn der Amerikaner Sie aufgreift, zeigen Sie auf Ihre Rotkreuzbinde und verlangen Sie unbehindert zu bleiben! Sie haben das Recht, wieder zu uns zurückgelassen zu werden!” Der Sani, 20 Jahre alt, sagte leise “Jawohl” und verschwand. Er wurde von dieser Minute an nie wieder gesehen.

Der Wald war so dicht mit Bäumen und Büschen bestanden, daß man nicht hindurchsehen konnte. Der Kapo ließ sich vom Leutnant in die Lage einweisen. Was war hier unlängst geschehen? Erst nach dem Krieg erfuhr ich es. Wir befanden uns im dicht bewalde teil Westhang des Bosselbach-Tales, dort, wo die Reihendörfer Vossenack und Germeter auf der Karte ein fast gleichschenkliges Dreieck bilden. Der von der 10./1055 besetzte Hang befand sich ungefähr an der Basis dieses Dreiecks, stützpunktartig. Der Frontverlauf war vollkommen unklar. Die Kompaniestellung hatte nur spärliche Deckung gegen Vossenack, das 1 km südlich von uns als Trümmersilhouette auf steilem Berggrat aufragte. Das Dorf sollte bereits mehrere Male den Besitzer gewechselt haben. Wer jetzt dort oben saß, wußte keiner. Anscheinend war es Niemandsland. Westlich davon, etwa auf unserer Breite, schienen amerikanische Truppen vom Hürtgenwald aus durch Teile von Germeter durchgestoßen zu sein bis über die Kante der Ackerhochfläche und hatten anscheinend mit einer Angriffsspitze die deutschen Verteidiger bis in den tiefen Hangwald zurückgedrückt, lagen dort jetzt mit der 10./1055 im Dickicht eng verkeilt. Anscheinend waren die amerikanischen Stellungen dort nur Sicherungsposten gegen das Tal, denn sie griffen nicht weiter an, schossen aber auf jeden, der sich zeigte.

Die Kampfweise der Amerikaner dort ist mir heute noch unverständlich. Sicherlich war ihre Führung sehr verunsichert. Sie konnte allerdings nicht wissen, daß die ganze Talung mitsamt dem Kreuzheck-Massiv von Deutschen unbesetzt war, die mit Schwerpunkt weiter nördlich um Hürtgen verteidigten. Wäre der amerikanische Angriffskeil von Germeter aus mit Infanterie hangabwärts durchgestoßen in das Bosselbachtal, hätte er spielend das Kreuzheck besetzen können und von, dort aus ganz Hürtgen umgangen. Aber dafür reichten vielleicht; drüben die infanteri-stischen Kräfte nicht. Jedenfalls war die Lage in unserem Abschnitt, ostwärts von Ger-meter, jetzt so verworren, daß weder die amerikanische noch unsere eigene Artillerie auf unseren Bereich zu feuern wagte. Darum war unser Funktrupp jetzt hier.

Es war ein nasskalter, diesiger Mittag. Man brauchte Handschuhe, hatte durchnässte Stiefel und Kleidung. Ringsum war kein Kampflärm mehr zu hören. Als wir begannen, am Südflügel des Kompagniegefechtsstandes mit Feldspaten, eine Grube auszuheben, die unser Funkbunker werden sollte, sah ich durch die wenigen Waldrandstämme über das Bachtal hinweg düster wie ein Todesdenkmal in 1 km Entfernung den halb zerschossenen Kirchturm von Vossenack aufragen. 10 Schritte neben uns hatte sich ein älterer Infanterist mit 2 Kameraden einen flachen Erdbunker gebaut. Er schaute uns zu und sagte: “Vorsicht vor Sicht von dem Kirchturm! Da sitzt der Ammi drauf! - Und kommt ja nicht auf die Idee, von hier zu funken! Der Ammi peilt uns sofort an und feuert, aber wir wollen so gerne noch leben!”

Da seit unserem Abmarsch von der B-Stelle schon über 40 Stunden vergangen waren, baute ich das Funkgerät kurz auf und ging auf Empfang, um auf Kontakt zu lauschen. Brüllend laut bekam ich sofort die Stimme unseres B-Stellen-Funkers zu hören; immer wieder rief er verzweifelt nach uns: “Tanne, Tanne, Tanne, kommen!” “Sie antworten nicht!” verbot mir der Kapo, “zuerst wird hier Deckung geschanzt, oder wir kriegen Artillerietreffer vom Gegner, und dann ist unser ganzer Einsatz umsonst!”

So schippten wir wohl 3 Stunden lang. Da tauchte plötzlich wie eine überirdische Erscheinung eine bekannte Gestalt über unserer halbfertigen, Kuhle auf: unser Nachrichtenoffizier Leutnant Knutzen von der B-Stelle! Ich war sprachlos und wollte gerade zu ihm sagen: “Wie kommen Sie denn hierher, Herr Leutnant ?” Da fuhr er mich mit schneidender Stimme an: “Warum, sind Sie nicht auf Funkbetrieb ? Sind Sie wahnsinnig ? Seit gestern morgen, seit 36 Stunden rufen wir Sie über Funk, und Sie sitzen hier friedlich und melden sich nicht !” Er mußte, da das Sperrfeuer weiter rückwärts abgeebbt war, auf direktem Wege von Brandenberg im Nebel des Morgens zu uns gelaufen sein, um uns zu suchen, ganz ohne Begleiter! Der Kapo beruhigte ihn und sagte: “Wir haben strikten Befehl von der Infanterie, uns erst einzugraben und dann zu funken.” Wurschnaubend sagte Knutzen: “Sie gehen noch heute mittag auf Funkbetrieb!” Sagte es und trat den Rückweg zur B-Stelle an. Er ist heil angekommen.

Wir wurden erst bei Dunkelwerden mit dem Erdbunker fertig. Es wurde eine flache Kuhle, in der 3 Mann mit Mühe nebeneinander liegen konnten, mit Ausrüstung und Funkkästen am Kopf- und Fußende, Bunkerausgang talwärts. Als Dach dienten zusammengeratte Astknüppel, mit Zeltbahn gegen Regen bedeckt, darauf Reisig, Laub, etwas Erde. Die Lufttemperatur betrug ca. 4 C und ging nachts auf den Gefrierpunkt. Wir hatten keine Mäntel mit.

Der Kapo sagte: “Gehen Sie auf Empfang und melden Sie befohlene Stellung erreicht!” Als ich die B-Stelle mehrmals mit ihrem Tarnnamen rief, kamen sofort die benachbart liegenden Infanteristen angelaufen und sägten: “Leiser ! Nicht so laut rufen ! Das hört ja sonst vorn der Ammi !” Gut gesagt - bei den damaligen Geräten mußte man ziemlich laut rufen.

Wir bekamen problemlos Verbindung und verkehrten mehr oder weniger im Klartext. Wir hatten von vorn herein Sprechfunk verabredet, weil es eilte und wir nicht auch noch Morsebuchstaben verschlüsseln wollten, von denen man nie wusste, ob der Gegenstelle die Entschlüsselung gelang. So sehr steckte der Funkverkehr in den Anfängen. Die Amerikaner waren technisch weiter, wie wir Monate später bei Gefangennahme sehen sollten.

Der Kapo hatte Leutnant Knutzen bei seinem Besuch gesagt, daß er die gegnerische Stellung noch bei Anbruch des nächsten Tages erkunden und vermessen müsse, Daher vereinbarte ich mit der B-Stelle Funkstille bis zum Morgen. Erlöst stellte der B-Stellen- Funker nach 2 Tagen Wachen und Rufen seinen Betrieb ein.

Ja, so unbeweglich ging es 1944 bei einer deutschen Infanteriedivision zu: Der Gegner war im Wald eingesickert, und die eigene Artillerie brauchte zweieinhalb Tage, um 3 Mann durch das Sperrfeuer nach vorn zu schicken, von dort einen Feuerbefehl zu bekommen und schießen zu können!



HORIZONTAL FLOURISH LINE

(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

Zum Seitenanfang

SITEMAP