KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Donnerstag, 23. November 1944

Am folgenden Tage verdichteten und verstärkten sich die Feuerüberfälle auf unser Bunkergelände. Es war nicht mehr möglich, vor dem Bunker zu dem Forsthaus zu gelangen. Auch nachts erhielt unser Gelände Artillerietreffer, und ich wachte auf und dachte bei mir: Die armen Schweine beim Gegner, die jetzt bei dem nasskalten Wetter die ganze Nacht hinter den Geschützen stehen müssen und Granaten schleppen! Unsere eigene Artillerie schoß fast gar nicht, da Munition knapp war. Es waren Tagesrationen an Granaten festgesetzt. Geschossen wurde daher nur auf lohnende Ziele, und fast nur auf Anforderung an Brennpunkten. Diese Hilflosigkeit zu erleben, war schon ein schlimmes Gefühl. Mein täglicher Gang zum B-Stellen-Bunker, obwohl durch Wald in gedeckter Hanglage, wurde allmählich zum ständigen Wettlauf mit dem Tod. Ständiges Grollen von Einschlägen lag nah und fern in der Luft, und ganze Salven explodierten von Zeit zu Zeit auch auf meinem Hinterhang-Weg. Dabei lagen wir noch mindestens 4 km hinter den vordersten Linien.

An diesem Donnerstag war ich seit 8 Tagen in dem Bunker 371 bei Bergstein. Die gegnerische Artillerie schien es mir, hatte Jetzt den Auftrag, alles um uns her kaputtzuschießen. Nach zahlreichen Einschlägen in der Nacht legte sich aber das Feuer gegen Morgen. Am Vormittag kam ein Melder in meinen Bunker und sagte: “Du sollst zum Leutnant kommen!”

Der Himmel hatte aufgeklart. Als ich am Eingang des B-Stellen-Bunkers ankam, erschien über uns am Himmel in etwa 300 m Höhe ein gegnerischer Jabo (Jagdbomber). Er war der erste, den ich seit Arnheim zu Gesicht bekam, und ich fühlte mich alarmiert darüber, daß Flugzeuge im Erdkampf jetzt plötzlich auch hier wieder eingesetzt werden sollten. Kaum hatte ich darüber nachgedacht, kippte der Flieger auch schon über die Tragfläche zum Sturzflug ab und schoß eine röhrende Rakete auf unsere Stellung ab. Sie krepiert mit lautem Knall im erdenen Deckungswall neben unserem Bunker. Wir waren inzwischen alle in den Bunkereingang gestürzt, und es gab keine Opfer.

Leutnant ******* empfing mich mit den Worten: “Kunst, es wird draußen mulmig, sie ziehen jetzt besser mit in unseren Bunker. Nehmen Sie sich einen Mann mit, holen Sie Ihre Sachen und das Funkgerät hier herüber ! ”

Als ich mit meinen Sachen zum B-Bunker zurückkam, hatte der Amerikaner immernoch Feuerpause. Ich sah, daß Leutnant: ****** mit 4 Mann auf den Erdhügel oben auf dem Bunkerdach geklettert war. Hoch aufgerichtet stand er dort in der Sonne, hatte sein Fernglas vor den Augen und suchte feindwärts das Gelände ab. Nach etwa 5 Minuten fauchte es, als wenn man Rohrstöcke durch die Luft schlägt, und rings um die Gruppe auf dem Bunkerdach schlugen Granaten ein. Mehr fallend als laufend stolperten die Männer zurück in den Bunker. Doch einer war schreiend oben liegengeblieben und mußte heruntergetragen werden: Stabsgfr.Hinrichsen hatte es erwischt. Der rotblonde Hühne, Pferdebauer aus Holstein, 30-jähriger Ostfrontveteran, wurde auf einen Tisch gelegt und hörte nicht auf, laut zu wimmern. Auf seinem Rücken befand sich in Mantel und Waffenrock ein kräftiger, 40 cm langer Riß von einem Granatsplitter. Hr's- Körper war jedoch unversehrt geblieben, es war lediglich ein Streifschuß durch die Uniform gekommen - und Hinrichsen hatte einen Nervenzusammenbruch bekommen. Er mußte mit einem Pferdefuhrwerk nach Nideggen zurückgebracht werden. Symptom für Soldatenstress an der Front. Nach so-und-sovielen Jahren Russlandkrieg, lebend überstanden, jetzt an der Westfront in der Materialschlacht schwer verwundet zu werden, war das Schlimmste, was sich ein deutscher Ostfrontüberlebender im 5.Kriegsjahr ausmalen konnte!

Im Gefechtsraum nebenan waren lebhafte Diskussionen über der Karte im Gange. Melder kamen und gingen. Ein neu hinzugekommener Unteroffizier stand mit dem Leutnant im Gespräch. Es war kurz nach 4 Uhr nachmittags. Da trat der Leutnant ******, mein alter Batteriechef in der Normandie und mein Ausbilder in Verden, auf mich zu und sagte mit ernstem Gesicht: “Kunst, Sie müssen heute Abend mit auf VB !”

Eine halbe Stunde verstrich, dann trat er vor mich und sagte: “Ich schicke Sie als Funker zusammen mit diesem Unteroffizier los, weil Sie Erfahrung hier im Westen haben und sich im Gelände zu bewegen wissen. Sie müssen nach ganz vorn zur Infanterie. Wir wissen nicht mehr genau, wo dort die Front verläuft und können daher nicht schießen. Der Unteroffizier soll das erkunden, und Sie sollen uns im Sprechfunk die Feuerbefehle durchgeben. Die Leitungen sind alle zerschossen. Es wird ein schwieriger Weg dorthin, achten Sie auf Artilleriefeuer und gehen Sie rechtzeitig in Deckung? Verlegen schaute er einige Sekunden zur Seite; dann fügte er hinzu: “Ich wollte heute morgen selbst mit einem Funktrupp dorthin und habe ein furchtbares Erlebnis gehabt: wir bekamen plötzlich Artilleriefeuer, und mein Funker wurde getroffen; Granatvolltreffer auf den Mann! Nichts von ihm blieb übrig. Ich werde das nie vergessen.” Er zögerte und sagte: “Also, alles Gute, Kunst, Sie werden das gut machen ! Und seien Sie vorsichtig !” Er drückte meine Hand.

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Das Funkgerät “Dora”, mit dein wir loszogen, befand sich in zwei Stahlkästen, die auf dem Kücken zu tragen waren, dabei das Gewehr um den Hals gehängt. Der erste Stahlkasten enthielt das eigentliche Funkgerät und wog 15 Kg. Der zweite Kasten war etwas leichter und enthielt den Zubehör, einschließlich Antennenstäbe, Mikrofon, Kabel und Anodenbatterie. Dieser Kasten mußte von einem zweiten Mann getragen werden. Unser zweiter Mann dafür war 19 Jahre Jung wie ich, war auch gerade neu zu unserer Einheit gekommen wie der Unteroffizier, und hieß Gerhard. Den Unteroffizier nannten wir ganz flachsig “den Kapo“ (Slang von “Korporal”). Unser Kapo war an der Ostfront gewesen, untersetzt, schmal, drahtig, knapp 30 Jahre alt, und war gerade frisch aus unserer Garnisonstadt Verden/Aller zu uns gekommen. Er redete kaum, hatte ein ernstes, bleiches Gesicht und machte einen erfahrenen Eindruck.

Als wir Drei loszogen, sagte Leutnant Knutzen, mein neuer, junger Batteriechef zu mir: “Wir bleiben hier mit 3 Mann für Sie auf Funkwache und lösen uns ab. Sowie Sie dort vorn angekommen sind, gehen Sie bitte mit dem Gerät sofort auf Betrieb und machen uns Meldung darüber, daß Sie da sind!”

Inzwischen war es dunkel geworden. Der Kapo führte uns im Gänsemarsch über die Feldhochfläche nördlich an Bergstein vorbei schnurstracks auf das Dorf Brandenberg zu. Ich war nie dort gewesen.

Brandenberg, an der Straße Bergstein - Kleinhau (heutige Landesstr. 11) war eine Gehöftansammlung aus lauter völlig zertrümmerten Gebäuden. In einigen noch intakten Kellerräumen befanden sich ein Bataillongefechtsstand der Infanterie, Fernsprechvermittlung, Verbandsraum, Unterstände. Wir kamen ohne Artilleriefeuer im Abenddunkel bis dort. Der Kapo wies uns beiden Funkern einen Ruheplatz zu und begab sich in den Gefechtsraum zu einer Lage-Einweisung. Er sagte zu uns: “Ihr wartet hier !”

Kurz nach uns betraten ca. 20 Infanteristen den Raum, Stahlhelm auf, Zeltplane über den Schultern, Waffe in der Hand, dreckverschmiert von oben bis unten, müde, ausgemergelte Gesichter, alle so jung wie wir. “Woher kommt ihr?” Sie antworteten, noch atemlos: “Von Lukasmühle, von ganz vorn. Wir wurden abgelöst.”

Lukasmühle war ein Gebäude im bewaldeten Tiefenbachtal im Südwesten, unterhalb des umkämpften Höhendorfes Vossenack. Von Brandenberg nach Lukasmühle führt heute ein idyllischer Fahrweg, und Fußwanderer gelangen von Brandenberg dorthin in einer knappen halben Stunde. Damals war das eine aufgeweichte, wässerige Lehmfürche, die einmal Ackerweg gewesen war. Sie war feindeingesehen und fast ständig unter Feuer. Von dort unten nach Brandenberg zu gelangen, konnte Stunden dauern, Stunden zwischen Angst und Tod. Unser Kapo kam wieder in den Kaum und sagte: “Morgen früh geht es weiter.“ Ich schlief sofort auf dem Fußboden fest ein. Draußen in der dunklen, nabkalten Herbstnacht trommelte die amerikanische Artillerie immer wieder in die Trümmer des Dorfes hinein.



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(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

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