KRIEGERLEBNISSE IM HÜRTGENWALD

Freitag, 17. November 1944

Auch auf unserer Abteilungs-B-Stelle in Bergstein tauchten inzwischen immer mehr neue Gesichter auf: die Truppe wurde spürbar mit Ersatz aufgefüllt. Die meisten kamen aus der Heimatgarnison Verden an der Aller, stammten aber nicht, wie bisher, aus Nordwestdeutschland, sondern aus dem ganzen Reich. Viele waren Genesende aus Verwundungen an der Ostfront gewesen. Die waren im Einsatz bei uns am meisten gefährdet, denn sie waren aus dem Russlandkrieg massierten gegnerischen Artillerie- und Bombeneinsatz kaum gewohnt, bewegten sich daher zu leichtfertig im Gelände und wurden dadurch oft als Erste Opfer plötzlicher gegnerischer Feuerüberfälle. Eine Eigenart der Amerikaner war ja, daß sie unser rückwärtiges Gelände ständig mit speziellen Messtrupps beobachteten und, sowie sie sich etwas bewegen sahen, binnen weniger Minuten mit einer Kanonade ganzer Batterien von Geschützen sehr gezielt schossen, sogar auf Einzelne unserer Soldaten. Solch ein Feuerüberfall konnte 15 Minuten lang aus pausenlosen Salven bestehen, sodaß unsere Soldaten immer wieder sagten: Wenn wir so mit Munition asen könnten wie die, würden wir diesen Krieg noch gewinnen!

Unter den Neuankömmlingen bei uns befand sich auch unser neuer Batterieführer (Stabsbattr. I/A.R.189). Es war ein junger Leutnant, höchstens 22 jähre alt und sehr fürsorglich und sympathisch, dabei ein sportlicher, forscher Typ, der mitzureißen verstand. Er war Lübecker und hieß Knutzen. Lt. Knutzen kam am Tage nach meiner Ankunft von der B-Stelle herüber in unseren Wohn- und Funkbunker, Westwallbunker 371 auf dem Burgberg, um Kamerad Spielar und mich “zu besuchen”. Er inspizierte unser Funkgerät, das wir mit einer Wurfantenne nach außen in die Bäume betriebsbereit gemacht hatten, und er hatte uns auch etwas mitgebracht, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen, geschweige denn gekostet hatte: eine kleine runde Dose mit Bitterschokolade Marke “Scho-ka-kola”. “Sonderration für die Front”, sagte er.

SCHO-KA-COLA

Doch er fuhr fort: “Leider ist dies meine letzte Dose, ich will sie ehrlich mit euch und den Anderen teilen, die noch nichts bekommen haben; daher kann ich nur jedem von euch eine Viertelscheibe Schokolade geben !” Ich fiel mit Heißhunger über diese Portion her, denn ich hatte schon seit Wochen nicht mehr satt zu essen bekommen. Innerlich war ich wütend, nicht auf Lt. Knutzen, sondern auf diese Art von Versorgung mit Sonderrationen. Wo blieben die Schokoladendosen hängen, oder hatte das Reich wirklich nicht mehr für einen kämpfenden Soldaten als einen Viertelsektor einer dünnen, kreis runden Scheibe Schokolade ?

Samstag, 18. November 1944

Mittags ließ mich Lt.**** in den B-Stellen-Bunker rufen. “Kunst, Sie müssen auf Störungssuche! Unsere Fernsprechleitung zur Infanterie ist eben zerschossen worden. Leider sind unsere Fernsprechsoldaten zur Zeit alle eingesetzt, daher muß ich auf Sie als Funker zurückgreifen. Und leider müssen Sie alleine gehen, denn ich habe sonst nicht einen Mann frei. Aber Sie sind ja erfahren und können das machen! Die Leitung geht von hier über das Bunker-Vorfeld schräg nach Nordwesten Richtung Brandenberg. Aber seien Sie vorsichtig und achten Sie darauf, daß Sie immer sofort in Deckung gehen können; es kann sein, daß das Gelände eingesehen wird und Sie Feuer bekommen.”

Panoramische Ansicht vom Burgberg
Panoramische Ansicht vom Burgberg

Mit umgehängtem Gewehr, Flickzeug im Brotbeutel, sowie Gasmaskendose um, zog ich am heilichten Mittag los. Die Luft war feucht, aber klar. Die Leitung führte über Ackerbaufelder auf offener, unbewaldeter Hochfläche. Links von mir blieb das Dorf Bergstein hinter mir. Mehrere Kilometer links voraus waren gewaltige runde Höhenzüge. Wo der zerschossene Kirchturm emporragte, lag Vossenack. Von ganz in der Ferne grüßte der Kirchturm des Dorfes Schmidt. In die Lage war ich damals nicht ein gewiesen, lediglich vor Beschüß gewarnt. Es herrschte absolute Stille. So zog ich denn furchtlos über die Äcker, die Kabelleitung durch meine linke Hand gleiten lassend; sie war, wie meistens, auf dem Boden verlegt, mit großzügiger Raumtoleranz gegen Beschuss Ich achtete darauf, daß ich möglichst in Feldfurchen ging oder durch kleine Erosionsrinnen, so daß ich bei Beschüß in Sekundenschnelle lang ausgestreckt gedeckt zu liegen kam.

Nach etwa 1000 m, mitten auf der Höhe, endete mein Kabel zerschossen. Mühelos fand ich wenige Meter weiter das andere Ende, verband beide Enden mit einem Weberknoten, schabte den Draht blank und verband ihn wieder, umwickelte die Flickstelle mit Isolierband. Einen Feldfernsprecher hatte ich nicht mit, schickte mich daher, ohne die Verbindung zu prüfen, zum Rückweg an. Ich war noch keine 10 m von der Flickstelle gegangen, da fauchte es weniger als eine Zehntelsekunde lang ganz leicht, und die erste amerikanische Granate schlug 20 Meter von mir entfernt ein. Rechtzeitig vorher kam ich in einer kleinen Kuhle zu liegen. Ich fühlte keine Angst, als ein ganzer Segen von etwa 20 Einschlägen hinterkam, bis etwa 15 Meter an mich heran. Ich war noch unerfahren im Eifel-Stellungskrieg und hielt das ganze für zufälliges Streufeuer. Ich stand wieder auf, sah, daß die Fernsprechleitung intakt geblieben war, und ging in gebückter Haltung ganz ruhig die 1000 m übers Feld zum Bunker zurück. Erst einige Tage später sollte ich erleben, was amerikanische Artillerie in der Eifel bedeutete und in wie tödlicher Gefahr ich mich befunden hatte.



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(Aus Taschenkalender-Notizen 1944) HARRO KUNST

Zur Verfügung gestellt von Helmut Schulte

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