Dan Simmons: Endymion - Pforten der Zeit

(Goldmann 43351)

gelesen von Andreas Hirn

Vorsicht vor Hochstaplern! Das wahrhaftigste am neuen Simmons sind die ersten Worte: "Sie lesen dies aus dem falschen Grund." Simmons zählt einige auf, der entscheidende aber, weil ich ein abgeschlossenes Buch lesen möchte, fehlt. Wer auf Teile aus endlosen Zyklen steht, die man einzeln, ohne ihnen eine Träne nachzuweinen, in die Tonne werfen kann, dem sei das Buch wärmstens ans Herz gelegt. Auch denjenigen, die gern fragen und keine Antworten erwarten. Eigentlich eine Frechheit, einem Leser das als Roman anzubieten.

Man kann sicherlich viele Stunden unheimlichen Spaß an "Endymion" haben, spätestens bei Seite 400 fragt man sich aber, wie Simmons all das halten will, was er versprochen hat (implizit oder explizit). Und da Simmons ein sicheres Gefühl für Timing hat (welches ihn bis jetzt selten verlassen hat, außer vielleicht in "Kinder der Nacht"), führt er die Handlung auch konsequent bis auf Seite 670 weiter, ohne daß die Lebensgeschichte des Raul (reimt sich auf Paul) Endymion zu Ende ist oder die angeschnittenen Fragen beantwortet und die gesetzten Spannungsbögen so recht aufgelöst sind.

Worum geht es also? Um eine Menge Action, eine Superheldengeschichte vor der Kulisse der Hyperionwelt, auf der die beiden Geniestreiche "Hyperion" und "Der Fall von Hyperion" spielten. Der geistesgeschichtliche Hintergrund soll mich in dieser Rezension nicht interessieren, Simmons hat ihn mit dem Abschluß seines Abenteuers selbst als bloße Staffage abqualifiziert, ein hohles Muster, das etwas mehr Geschmack in die Suppe bringen soll, damit der Vordergrund nicht nur als der reine Selbstzweck, der er ist, erscheinen soll. Da sollte man unter Umständen in George Zebrowskis Omega-Punkt-Trilogie nachlesen, dort ist ein ähnlicher philosophischer Background zu finden.

Vorgeschichte siehe "Hyperion" und "Der Fall von Hyperion". Das Mädchen Aenea, die zukünftige Erlöserin, Diejenige Die Lehrt, taucht aus einem der Zeitgräber auf Hyperion wieder auf, und der alte Dichter der Cantos Martin Silenus beauftragt den jungen Abenteurer Raul Endymion, sie zu beschützen. Das tut er mehr schlecht als recht. Mit dem Androiden A. Bettik und unter Hilfe des Shrike können sie Aenea vor den Truppen des Pax (hinter dem die katholische Kirche steht) retten. Zusammen reisen sie durch die seit dem Fall nicht mehr funktionstüchtigen Farcastertore auf dem Fluß Thetys durch verschiedene Welten. Verfolgt werden sie vom Priester-Captain DeSoya, der mit einem superschnellen Schiff der Erzengelklasse etliche Tode und Auferstehungen auf sich nimmt, um Aenea gefangenzunehmen.

So, das sollte reichen. Es gibt eine ganze Menge schöner Einfälle und eindrucksvoller Szenen, so daß - anständig zu Ende geführt - "Endymion" ohne Schwierigkeiten an die Qualität der Vorgängerteile hätte anknüpfen können. Allerdings hält es Mr. Simmons nicht für nötig, ehrlich zu seinem Leser zu sein. (Ähnlich gemein war Kristine Kathryn Rusch mit ihrem Erstling "Die weißen Schleier der Macht", obwohl auch sie das damals nicht nötig hatte.) Die Hauptcharaktere entsprechen den üblichen Klischees, die so eine, der klassischen Abenteuerliteratur entliehene und für die Fantasy typische, Handlung mit sich bringt. Störend ist das nicht, ist Simmons' Stil doch kraftvoll genug, von der ersten Seite weg zu fesseln und einen - von wenigen kurzen Längen abgesehen - auch nicht mehr loszulassen. Interessant ist die Form der "Memoiren" Endymions. Die erzählt er nämlich nicht allein, sondern seine persönlichen Kapitel wechseln sich ab mit im Präsens auktorial erzählten Passagen, die DeSoya und seinen Männern folgen.

Endymion entschuldigt sich auch kurz dafür ("Später werde ich Ihnen erklären, woher ich das alles weiß...", S. 44), er tut es bloß nicht. Eines der vielen Löcher. Viele Andeutungen, die nicht ausgeformt werden, wohl nur zur Erhöhung der Spannung dienten, eine Menge Fragen, die aufgeworfen und dann nicht beantwortet werden.

Wie sieht die Rolle des Shrike in dem Konflikt aus? Warum hilft es Aenea, wenn es denn das überhaupt tut? Welche Macht steht hinter Aenea und läßt die tote Technologie der Farcaster wieder arbeiten? Was hat der Pax mit dem offiziell von ihm verteufelten Techno Core zu schaffen? Gibt es dort etwa eine Verschwörung? Welcher Spezies gehört die Killerin Rhadamanth Nemes an? Gibt es noch mehr von ihrer Sorte? Wie sieht die Gefahr aus, die Aenea für den Pax und/oder das Core darstellt? Wieso braucht man den leise zweifelnden DeSoya als ihren Jäger und nicht einen tatkräftigen Krieger (wie z.B. R. Nemes)? Welchen wahren Hintergrund hat der Krieg mit den Ousters? Sind sie vielleicht doch ganz anders, als sie scheinen? Sind die jüdische Welt Hebron und die islamische Welt Qom-Riyadh vom christlichen Pax ausgelöscht worden und nicht von den angreifenden Ousters? Welcher Plan steckte hinter der Abfolge der zu durchquerenden Welten? Wer ist der "Architekt", den Aenea sucht und dessen Haus sie am Ende ihrer Reise findet?

Und seit wann ist 1 eine Primzahl?

Endymion, © 1995 by Dan Simmons. (Erstveröffentlichung 1996 als Bantam Spectra) Übersetzung von Joachim Körber 1997. 670 Seiten, DM 28,- (Preishit!)


letzte Änderung: 23.10.98